„Die Kälte belief sich auf 22 Grad“
In der Dorfchronik von Herste (heute zu Bad Driburg) schrieb der Ortschronist am Jahresende 1822: „Die trockene Witterung dauerte immerfort, im Ausgang des Monats November fing es sehr stark an zu frieren, und am Ende des Monats December belief sich die Kälte auf 22 Grad.“ – 22 Grad Kälte? Da scheint etwas nicht zu stimmen … Die neue Roland-Info-Grafik zu historischen Temperaturskalen klärt auf …
Von Heiko Hungerige
Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Alexanders von Humboldts (1769 – 1859) „Ansichten der Natur“ erschien, wurde das kleine Büchlein schnell zu einem Bestseller. Es entstand nach seiner sensationellen Forschungsreise durch Lateinamerika (1799 – 1804) und wurde erstmals 1808 veröffentlicht, später mehrfach überarbeitet und erweitert. Unter anderem erwähnt er darin, dass in „Fort Gibson, am Arkanzas-Flusse, der in den Missisippi fällt“ im August 1834 „im Schatten und ohne Reflex des Bodens das Thermometer“ 37,7 Grad anzeigte (S. 117 in der Ausgabe von 1860).
Zugegeben, 37,7 Grad sind ziemlich warm, aber nicht außergewöhnlich: Am 20. Juli 2022 wurden in Bad Mergentheim (Baden-Württemberg) 40,3 °C gemessen und am 25. Juli 2019 sogar 41,2 °C in Duisburg-Baerl und Tönisvorst (aktueller Rekord für deutschland). Warum erwähnt Humboldt also diese Temperatur in Fort Gibson, die noch nicht einmal die 40-Grad-Marke streift?

Als in der ersten Hälfte des 19. Jh. Alexanders von Humboldts (1769 – 1859) „Ansichten der Natur“ erschien, wurde die Temperatur noch in Grad Réaumur (bzw. in Grad Fahrenheit) angegeben (37,7 °Re = 47,1 °C).
Zu Humboldts Zeit wurde die Temperatur noch in Grad Réaumur (bzw. in Grad Fahrenheit) angegeben, 37,7 °Re entsprechen 47,1 °C – das ist schon berichtenswerter.
(Übrigens: Die höchste jemals gemessene Lufttemperatur beträgt 56,7 °C und wurde am 10. Juli 1913 im Death Valley, Kalifornien, gemessen. Der vorherige Rekord von 58 °C in Al-Azzizyiah, Libyen,
wurde von der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) als ungültig erklärt, da es sich wahrscheinlich um einen Messfehler handelte. Die niedrigste jemals auf der Erde gemessene
Temperatur betrug −89,2 °C und wurde am 21. Juli 1983 an der Wostok-Station in der Antarktis registriert.)
Amtlich wurde erst 1901 in Deutschland (1909 in der Schweiz) die 1742 von dem schwedischen Astronomen, Mathematiker und Physiker Anders Celsius (1701 – 1744) entwickelte und nach ihm benannte
Celsius-Skala eingeführt, international 1948 durch die 9. Generalkonferenz für Maß und Gewicht. Begegnen uns in alten Chroniken und Aufzeichnungen „Kältetage“ von 22 Grad, handelt es
sich also offensichtlich nicht um Angaben auf der Celsius-Skala.
Und der Herster Dorfchronist? Hat auch er die Réaumur-Skala verwendet, so wie Humboldt in seinen „Ansichten der Natur“? Der französische Naturforscher René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683 –
1757) hatte diese Skala 1730 entwickelt. Sie basierte zunächst auf der Ausdehnung von Alkohol (Ethanol), später von Quecksilber. Als Fixpunkte seiner Temperaturskala definierte Réaumur den
Schmelzpunkt von Eis (0 °Ré) und den Siedepunkt von Wasser bei normalem Atmosphärendruck (80 °Ré). Die Beziehung zur Celsius-Skala ergibt sich über die Formel: °C = °Re x 1,25.
Wären die „22 Grad“ aus der Herster Dorfchronik also auf der Réaumur-Skala gemessen worden, entspräche dies 27,5 °C – der „kalte“ Tag im Dezember wäre also noch wärmer gewesen.
Neben der weit verbreiteten Réaumur-Skala gab es aber noch eine weitere Temperaturskala, die gerne verwendet wurde (auch von Humboldt in seinen „Ansichten der Natur“, s. o.): Die des Danziger
Physikers Daniel Gabriel Fahrenheit (1686 – 1736). Sein Name ist mit der Erfindung des Quecksilberthermometers (1718) verbunden und bis heute durch den 1953 erschienen dystopischen Roman
„Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury (1920 – 2012) weltweit bekannt. (451 Grad Fahrenheit entsprechen 233 Grad Celsius: Die Temperatur, ab der Bücher zu brennen beginnen …)
Fahrenheit verwendete als Nullpunkt seiner Skala (0 °F) die tiefste Temperatur, die er mit einer Mischung aus Eis, Wasser und Salmiak (= Ammoniumchlorid) oder Seesalz (Kältemischung) erzeugen
konnte: −17,8 °C. Als weitere Skalen-Fixpunkte verwendete er den Gefrierpunkt reinen Wassers (Eispunkt; 32 °F) und die Körpertemperatur eines „gesunden Menschen“ (96 °F; entspricht ca. 35,6 °C
und wurde von Fahrenheit zu niedrig angenommen).
Abgeschaut hatte er sich diese Methode bei einem Besuch des dänischen Astronomen Ole Rømer (1664 – 1710) in Kopenhagen: „Rømer war der Erste, der ein Thermometer entwickelte, das mit Hilfe zweier
Fixpunkte kalibriert wurde. In der Rømer-Skala liegt der Gefrierpunkt des Wassers bei ca. 7,5 °Rø, der Siedepunkt bei 60 °Rø und die durchschnittliche Körpertemperatur eines Menschen bei ca. 26,9
°Rø.“ (zit. nach Wikipedia)
Hat der Herster Dorfchronist also die Fahrenheit-Skala verwendet?
Ihre Beziehung zur Celsius Skala ergibt sich über °C = (°F – 32) x 5/9. 22 °F entsprechen also –5,6 °C, eine Temperaturangabe, die weitaus plausibler erscheint. Und so macht es auch Sinn, wenn der Dorfchronist weiter für das Jahr 1823 schreibt: „Die Kälte blieb noch immer anhaltend, am 22ten Januar waren 22 ½ Grad Kälte. Im Frühjahr fehlte es den Ackersmann an Feuerung und dabei noch immer Geldmangel. Bei solchen Beschwerlichkeiten womit der Ackersmann zu kämpfen hatte, fiel es ihm schwer, die Steuer zu bezahlen.“ (Oeynhausen, 1994, S. 12)

Öffentliches Thermometer am Alten Rathaus in Göttingen, mit Temperaturskalen in Réaumur, Celsius und Fahrenheit (Quelle: Von Rendor Thuces Al'Nachkar - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0)
Unsere Roland-Info-Grafik Nr. 17 stellt die wichtigsten historischen Temperaturskalen tabellarisch nebeneinander; neben den Skalen von Celsius, Réaumur und Fahrenheit sind dies die Skalen von Lord Kelvin (1848; mit „absolutem Nullpunkt“) und die vor allem in anglophonen Ländern benutzte Skala (1859) von William John Macquorn Rankine (1820 – 1872).
Außerdem sind die Formeln angegeben, mit denen sich Werte auf diesen Skalen in Angaben nach Celsius umrechnen lassen.
Obwohl die direkte Anwendung von Temperaturskalen in der Genealogie nicht alltäglich ist, kann die Fähigkeit, historische Temperaturangaben korrekt zu interpretieren, einen wertvollen Beitrag zur Forschung leisten. Sie ermöglicht eine bessere Kontextualisierung von Lebensereignissen, ein tieferes Verständnis der damaligen Lebensumstände und trägt zur historischen Genauigkeit bei. Es ist ein kleines, aber feines Detail, das die Familienforschung um eine weitere Dimension bereichern kann.